Wandelbarkeit des Urteils

Die Wandelbarkeit des Urteils

Sie saßen auf dem alten Wegweiser nebeneinander, die Nebelkrähe und sie Saatkrähe, und blickten über das trostlose Land zu Ende des Winters. In den Ackerfruchen lag noch schmutziger Schnee. Die Hecke reckte ihre nackten Zweige wärmeheischend in einen Himmel, der sie mit eisigem Wind übergoß. Der Pfad zwischen den Äckern war zu einer Bahn langsam abwärts schiebenden Schlammes geworden.
“Ein ekliges Land”, sagte die Nebelkrähe, und sie hatte echt.
“Ein häßliches Land”, ergänzte die Saatkrähe, und sie hatte ebenfalls recht.
 Da wanderten gelbrote Sonnenstrahlen über die Flur, vergoldeten alles, was ihnen in den Weg lag – die Gräser der abgestorbenen Wiese, den frostzerrissenen Stamm der Birke, die Stengel der toten Schafgarbe, die dreckigen Schneeefetzen hinter der Hecke – und verwandelte das rieselnde Wasser am Weg zu purem, flüssigem Gold.
“Ein herrliches Land”, sagte die Nebelkrähe.
“Fürwahr, ein schönes Land”, ergänzte die Saatkrähe;
und sie hatten beide recht.

Kurt Kauter

Diese kurze Geschichte von Kurt Kauter zeigt sehr schön, wie sehr unser Urteil von den äußeren Umständen abhängt und wie schnell sich unser Urteil wandeln kann, wenn die Umstände sich ändern. Meistens urteilen wir, wie die beiden Krähen in der Geschichte, intuitiv und ohne groß darüber nachzudenken. Der erste Eindruck, den sie von dem Land bekamen, war ein trostloser und deshalb meinten sie, dass es eklig und hässlich sei und sie beide hatten Recht, heißt es. Kurz darauf kam die Sonne hervor und vergoldetet alles und das Urteil der beiden Krähen war nun, dass es ein schönes Land sei und beide hatten wieder Recht. Das Land selbst war immer noch das gleiche, aber die Umstände hatten sich geändert und somit auch das Urteil der Saat- und der Nebelkrähe.

Sind wir selbst nicht auch oft wie diese beiden Krähen? Vielleicht lernen wir einen Menschen unter ungünstigen Umständen kennen und fällen ein negatives Urteil über ihn. Ein anderes mal, wenn die Umstände vielleicht ganz anders sind, lernen wir diesen Menschen dann von einer ganz anderen Seite kennen und sehen ihn plötzlich in einem ganz anderen Licht und wir müssen unsere Meinung über ihn revidieren.

Natürlich sind wir, um entscheidungs- und handlungsfähig zu sein, oft gezwungen, uns eine Meinung zu bilden und zu urteilen. Uns sollte dabei aber immer bewusst sein, das alles, was wir bewerten und beurteilen nicht unbedingt auch richtig sein muss, oder dass es nur ein Teil der Wahrheit ist, da unser Wissen meist sehr begrenzt ist. Unser Urteil beruht zum einen auf die Informationen, die uns zugekommen (aber meist unvollständig) sind und zum andern auch auf unsere Emotionen. Nicht selten spielen auch Manipulationen durch andere oder durch Medien eine Rolle, ebenso wie auch unsere jeweilige Umgebung, Gesellschaft und Kultur. Wandeln sich eine oder mehrere dieser Umstände, so wandelt sich meist auch unser Urteil.
Deshalb sollten wir vorsichtig sein, wie wir mit unserem Urteil umgehen und was wir öffentlich äußern, denn schnell kann es passieren, dass unser persönliches Urteil zu Vorurteilen und auch zum Verurteilen führt.

Vorsicht im Urteilen ist, was heutzutage allen und jedem zu empfehlen ist“ (Georg Christoph Lichtenberg)